Chesapeake Bay Bridge: Fahrt über die beängstigendste Brücke der Welt - WELT (2024)

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Mein Feind gleicht einem Drachen mit zwei Körpern: 7,0 und 6,97 Kilometer weit spannt sich das Zwillingsungetüm über die Chesapeake-Bucht. Der Drache windet sich von Westen aus zu einer quälenden Linkskurve, die zum Himmel zielt, er buckelt auf 56,7 Meter maximaler Höhe über dem Meer: Um den Drachen zu bezwingen, muss ich über seinen Rücken fahren.

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An langen Sommerwochenenden vermögen das 366.000 Fahrer. Wie viele von ihnen Todesangst ausstehen während der acht bis 15 Minuten langen Überquerung, ist nicht überliefert.

Wie viele Fahrer die Brücke meiden, weil sie ein unüberwindlicher Angstgegner ist, der den Schatz der Strände von Marylands Eastern Shore hütet, ist ebenso wenig erfassbar. Gewiss ist immerhin: Die Furchtsamen, die sich überwinden, den Drachen zu befahren, müssen nach Zehntausenden zählen. Ich zähle zu ihnen.

Wir sind Menschen, denen die Bay Bridge das Herz rasen, den Atem keuchend verflachen, den Schweiß strömen und erkalten lässt, während unser Blick sich zur Tunnelvision verengt: Wir singen dumme Lieder, rezitieren Babynamen, lesen Nummernschilder rückwärts wie Stoßgebete. Wir leiden höllisch, wir halten durch, unbesungene Helden: Wir leiden an Gephyrophobie, Brückenangst.

Drei Chauffeur-Dienste bieten ihre Dienste an

Das US-Magazin „Travel & Leisure“ rechnet die Chesapeake Bay Bridge zu den „am meisten beängstigenden Brücken der Welt“. Furchterregend genug ist sie, um drei professionelle Chauffeurdienste zu ernähren. Diese menschenfreundlichen Wegelagerer bringen für 25 Dollar pro Strecke fahruntüchtige, vor Angst gelähmte Kunden in deren Wagen auf die andere Seite.

Es sind Amateurpsychiater. Die Fährmänner der Straße übers Meer berichten von Menschen, die im Valiumnebel schweigen. Von anderen, die, ohne je innezuhalten, mit ihren Enkeln, den ersten Geliebten, ihrem Geld, ihrer Lebenslust prahlen, um den Brückentod in sich zu besiegen.

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Kultivierte Menschen ziehen sich Decken über den Kopf, verstopfen sich die Ohren. Es soll gestandene Männer gegeben haben, die sich in ihren Kofferraum einschließen lassen wollten.

Mich erwischte vor einigen Jahren eine Panikattacke mitten auf der Brücke. Es war brutal. Ich habe die Bay Bridge seither gemieden. Als ich am Samstag, dem 15. Juni, wieder einen Selbstversuch wagte, diesmal als Beifahrer, nicht am Steuer, ließ mich die Brücke seltsam kalt. Doch traue ich dem Frieden nicht. Alleine würde ich den Drachen nicht befahren.

Nicht wenige Leser mögen das alles für erfunden halten. Oder jedenfalls für hysterisch in einem lachhaften Ausmaß. So ist das mit Phobien: Der eine lacht und genießt die Turbulenzen im Jet beim Umfliegen des Gewitters, der andere stirbt tausend Tode und sieht sein Leben als Film.

Brückenängstliche gelten als Paria

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Während Flugangst seit „9/11“ gesellschaftsfähig ist, verschwistert mit der Klaustrophobie in Fahrstühlen, Tunnels, Menschenmengen und verschwägert mit der Höhenangst, die Alfred Hitchco*ck zu „Vertigo“ inspirierte – während es also in Ordnung ist, auf Stehempfängen sein Unbehagen in Enge und auf Gipfeln zu gestehen, gelten die Brückenängstlichen als Paria. Sollen sich zusammenreißen, Mensch, sich nicht anstellen. Wer so denkt, begreift nichts von uns.

Wir sind Helden einer eingebildeten Wirklichkeit, wir haben Mitgefühl, nicht Hohn verdient. Wer Angst nicht kennt, kennt keinen Mut. Wer Angst nicht zugibt, ob auf einer Brücke, an einem Rednerpult oder in einem Prüfungssaal, ist ein Lügner und ein Narr.

Wir Brückenängstlichen kämpfen mit der oft geheim gehaltenen Malaise, so gut wir können. Wie Alkoholiker, die Entdeckung fürchten, finden wir Ausreden, warum die Strände an der Eastern Shore Marylands uns schon immer kaltgelassen hätten. Brückenängstliche Diktatoren des Steuers überlassen ihren Frauen das Lenkrad vor der Bay Bridge, um ihnen „mehr Fahrpraxis“ zu gönnen. Dass sie auf dem Beifahrersitz die Augen schließen, bedeutet nichts: nur ein Nickerchen.

Ich zähle nicht zu den Diktatoren, ich halte sie für töricht. Ich bitte meine Frau ganz offen zu übernehmen.

Es ist die Angst vor der Angst

Neben Selbstbetrügern und Verdrängern gibt es eben auch uns Aufrechte (und solche, die keine Wahl haben, weil sie allein fahren müssen), die sich zu ihrer Brückenangst bekennen. Sie werden zum Beispiel beim Island Express, dem Fahrdienst von Alex Robinson, gut bedient. Mehr als 5800 Kunden im Jahr lässt er von seinen Fahrern über die Bucht bringen. 50 Dollar return: spottbillig für ein Stück Leben ohne Angst.

Es ist die Angst vor der Angst: „Was geschieht, wenn ich auf der Brücke plötzlich nicht weiterkann, in Panik anhalten muss, einen Stau verursache?“ Die Gedanken reichen aus, um Furcht zu säen. Nicht wenige von uns hatten die Bay Bridge jahrelang ohne Probleme überquert, bis wir eines Tages Opfer eines Panikanfalls wurden. Die Intensität der Angst ist so individuell wie jede Person.

Vier Dollar Brückenzoll entrichten Fahrer eines Pkw von West nach Ost. Ein lachhafter Preis für die gefühlte Todesnähe, die Höhenliebhaber in Vergnügungsparks mit einem Vielfachen erkaufen. Wir Brückenängstlichen würden gerne 20 Dollar bezahlen, wenn wir betäubt würden wie beim Zahnarzt.

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Die Brücke stammt aus unsentimentalen Zeiten, als Phobien kein Gesprächsthema waren, jedenfalls nicht für Männer. Die erste Spanne wurde 1952 fertiggestellt, die zweite 1973, vom Verkehrschaos erzwungen. Wären die beiden Körper des Drachen einer, bildeten sie einfach einen sechsspurigen Highway übers Meer, am besten mit mannshohen Sichtblenden bewehrt, der größte Teil von uns Gephyrophoben wäre kuriert. Oder doch fahrfähig.

Selbstmörder wählen die Bay Bridge selten

Es ist schleierhaft, warum wir Ängstlichen keine Lobby haben. Obwohl wir in Parlamenten, Ämtern, in der Staatsregierung von Maryland sitzen müssen. Es mag die Scham sein, sich als Idiot zu outen, der Brücken fürchtet.

Denn Brücken werden mit zerschnittenen Schleifen wie Babys gefeiert: Sonntagsrednerkulissen. Brücken verbinden, sie führen über Gegensätze, ins 21. Jahrhundert und überhaupt in die Zukunft. Brücken sind gut und wichtig, immer. Sie bezeugen Wohlstand, lohnende Handelswege, Pioniergeist: Wer Brücken baut, will bleiben. Oder jedenfalls zurückkehren.

Brücken sind Symbole der Macht, ohne sie hätte es keine Weltreiche gegeben. Die Grandezza der Brücke an sich und der Bay Bridge im Besonderen beglaubigen alljährlich Hunderte Zehn-Kilometer-Läufer. Sie begeben sich seit 1975 auf ihre Wallfahrt über die Bucht. Wenn es nicht Streit gibt über die Kosten wie 2012, als der Lauf ausfiel.

Aus meiner Sicht sind diese Leute verrückt. Selbstmörder wählen die Bay Bridge selten. Anders als die Golden Gate, von der Lebensmüde einen letzten gloriosen Blick auf den Pazifik werfen wollen. Für Brückenängstliche ist die Bay Bridge Todeserfahrung genug.

Glauben Sie mir.

Chesapeake Bay Bridge: Fahrt über die beängstigendste Brücke der Welt - WELT (2024)
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Author: Mr. See Jast

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